Montag, 20. Februar 2012

Suizid


Die Sonne schlägt schon rote Wurzeln in die Schwärze der Nacht und das Licht quillt durstig hinter dem Horizont hervor. Es legt sich auf die Bäume und lässt seine Farbe an den Blättern zurück. Das Dämmerlicht weicht dem sanften, einschläfernden Gold des Morgens, welches schräge Bahnen durch die Luft zieht. Rasch läuft der Wind über jene rötlich goldene Landschaft, um das gefärbte Grün an Ästen und Boden zum Tanzen zu bringen. Die Grashalme lauschen der leisen, zaghaften Musik und lassen sich von ihr führen. Der blutige Tau riecht nach Tatendrang. Jener Geruch verleitet die Amseln zum Singen. Die Häuser des nahen Dorfes schlummern in ihrer Naivität, erwarten einen weiteren gewöhnlichen Tag, beginnend in rötlicher Harmonie.
Diese wird aber je durch ein nacktes Paar Füße gestört. Sie laufen einen Trampelpfad entlang und schrecken nicht vor dessen Ende zurück, sondern bahnen sich einen Weg über grünbewucherten Boden. An so manchem Stein und mancher Wurzel stoßen sie sich blutig, aber es gefällt ihnen das Leben zu spüren. Die Füße tragen ein Mädchen mit langem schwarzem Haar und immer schneller tragen sie es in den Wald hinein. Gräser dirigierender Wind spielt mit des Mädchens Haar, die Röte der Sonne in seinen dunklen Augen. Es ist alles was darin spielt.
Das Mädchen flüchtet sich in die Einsamkeit, irrt umher, durchbricht schließlich das Dickicht und gelangt auf eine Lichtung. Sie zögert, doch ihre Füße tapsen über das Gras und ziehen sie schließlich zu Boden. Fast widerspenstig bettet sich der schmächtige Körper auf den unebenen Untergrund.
Ihr weißes, kurzes Kleid schützt die blasse Haut weder vor morgendlicher Frische noch vor Taunässe.
Sie schließt die Augen und wiegt sich in köstliche Träume. So lange schon hat sie die Fähigkeit dazu verloren geglaubt, doch nun kehrt sie zurück und diesmal, dieses letzte Mal, ist sie überwältigender als jemals zuvor.
Verborgene Wünsche entführen das Mädchen an exotische Orte, lassen es in Gedanken unvorstellbare Dinge tun und schöne Gefühle kosten. Die Bilder kommen und verschwimmen wieder, doch eines hindert sie am Verschwinden. Das Mädchen hält es ganz fest und trägt es zu seinem Herzen. Das Lachen junger Menschen hüllt sie in die schönste aller Fantasien. Das Mädchen fühlt sich als Teil dieser Gruppe, ja mehr noch – als ihr Mittelpunkt. Sie liebt und sie wird geliebt. Minutenlang wird sie von jener Utopie liebkost und in Hoffnung gewiegt.
Ganz plötzlich jedoch spült eine Woge der Realität über sie hinweg.
Zwei Gesichter tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Beide sind sie blass und dunkelhaarig, das eine aber hat markante Züge und strömt unglaubliche Strenge und Härte aus, das andere unruhige, gehetzte Augen, die demütig zu Boden blickten. Das Mädchen riecht den Duft seines Zuhause, den es unweigerlich mit den beiden Gesichtern in Verbindung bringt. Ob sie ihre Eltern hasst, weiß sie nicht, aber es ist keine Liebe, nur eben zwei blasse Gesichter in ihrem Kopf. Die Eltern haben ihr nichts Böses getan, wie denn auch, wenn sie nie da gewesen sind?
Sie riecht Stress. Es ist ein beißender Geruch, den die Schüler in dem stillen Raum ausströmen. Ihr Blick schweift über Köpfe, die tief über Hefte gebeugt sind. Der Lehrer fragt sie gehässig, ob Madame sich für jene Lehranstalt zu fein wäre. Sie schüttelt den Kopf, doch sie lässt ihr Heft weiter unangerührt. Sie hat bereits resigniert. Die Eliteschule schmeißt sie raus. Gut so. Blöde, schimpfende Gesichter.
Sie vernimmt die spottenden Stimmen in den überfüllten Schulgängen, trifft auf Unverständnis. Undankbare Göre! Bald geht sie auf eine neue Schule. Gut so, anfangs jedenfalls. Die Neugierde der Mitschüler wandelt sich in Hass. Sie kann sich nicht entsinnen, je einen Fehler begangen zu haben. Aber jede Gesellschaft braucht ihre Sündenböcke, nicht?
Ein spärlich beleuchtetes Zimmer. Kalte Tränen fühlt sie über ihre heißen Wangen laufen. Immer und immer wieder liest sie die Nachrichten auf ihrem Handy. Wüste Beschimpfungen und Drohungen sind dort in Buchstaben gefasst. Sie hat keinen Fehler begangen, aber Gott: Er lässt sie existieren.
Die Gesichter verschmelzen mit Lehrern und Mitschülern, bäumen sich über ihr auf, zerren an ihren Gliedmaßen und ziehen sie in einen Strudel hinab.
Ihr Kopf wälzt sich unruhig im Gras von einer Seite auf die andere; ihr ist nicht bewusst, dass sie strampelt und um sich schlägt. Der Traum hält sie fest.
Dumpf prallt ihr Körper auf hartem Untergrund auf. Schwaches Licht öffnet ihre Augen. Mit schmerzenden Händen stützt sich das Mädchen vom Boden ab und sieht sich in die Augen. Ihr Kopf wirbelt herum und doch erblickt sie wieder ihr eigenes Antlitz. Egal, wie sie sich dreht, egal, wo ihr Blick hinfällt, immer sieht sie jenes hässliche, blasse Gesicht mit den leeren, schreckgeweiteten Pupillen. Wie in Trance erhebt sie sich und geht auf die Spiegel zu; ihre Schritte hallen, aber nach wenigen Metern stößt sie gegen eine Mauer. Die Spiegel um sie herum schmelzen; Mauern schieben sich auf sie zu. Der Versuch zu schreien misslingt, weil ein metallener Geschmack ihre Sinne betäubt; Blut rinnt den Rachen hinab und verätzt die Gedärme.
Blind tastet sie die nahenden Mauern ab, doch sie verliert den Halt unter den Füßen. Ihre Augen sind des Sehens nicht mehr mächtig, aber sie hört das hämische Gelächter, welches auf ihre Demütigung folgt, spürt die Enttäuschung der zwei Gesichter und die Einsamkeit, die sie in ihrem Sturz verfolgt.
Sie schlägt die Augen auf und blickt in den Himmel, der seine Röte bereits verloren hat. Das Herz hämmerte fest und schmerzhaft gegen die Rippen. Sie hört das Blut in den Adern pulsieren und die Luft aus ihrer Lunge entweichen.
Ihre taube Hand greift in die angenähte Tasche des Kleides und zieht etwas heraus. Während ihre fiebrigen Augen den Himmel fixieren, klappt das Messer auf. Der ganze Körper wird von einem leichten Zittern erfasst, doch ihre Rechte führt die Klinge ruhig an das Gelenk der anderen Hand.
Sie fühlt weder die Hand, die ausführt, noch die, die unter der scharfen Klinge leidet. Keinen noch so kleinen Moment wenden sich ihre Augen von dem Blau des Himmelgewölbes.
Das Messer fängt einen Sonnenstrahl in sich auf, als es ins Gras fällt. Über das Gesicht legt sich – wenn überhaupt möglich – eine noch größere Leere. Nun findet man keine Röte am Himmel mehr, denn der Stoff des einst weißen Kleides hat sich an ihr vollgesogen.

2 Kommentare:

  1. Wow, respekt! Echt wahnsinnig gut geschrieben und nimmt einen richtig mit :/
    Bezieht sich das denn teilweise auf dich? o:

    Liebe Grüße,
    Mia

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  2. Dankeschön, genau das wollte ich erreichen <3
    Nein, keine Angst! Ich bin absolut nicht selbstmordgefährdet oder etwas dergleichen ^^

    Liebe Grüße
    Susi

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