Montag, 20. Februar 2012

Überarbeitung von "Das Veilchen"


Einst stand an einem Wegrand ein kleines Veilchen. Es stand da, in sich gebückt und ganz kümmerlich. Getrieben vom Verlangen nach Sonne hatte es die Erde durchstoßen, ohne zu wissen, welch Grauen es an der Oberfläche erwartete. Die schweren Regentropfen, die es zu erschlagen drohten, der bestialische Gestank der vorüberfahrenden Blechkisten, der Lärm des Lebens, der täglich auf der Straße pulsierte. Was die dort wohnenden Menschen keineswegs zu stören schien, raubte dem Veilchen beinahe den Verstand. Es hätte am liebsten seine Beine aus der kalten Erde gezogen, wäre weggegangen und hätte sich an einem anderen Ort niedergelassen. Doch es lag nun einmal im Sinn der Natur, dass Veilchen weder Beine haben noch gehen können.
Dem Veilchen blieb also nichts anderes übrig, als sich Tag für Tag den Kummer von der Seele zu weinen. Doch niemand der Vorbeieilenden hörte das Schluchzen des Blümchens. Die wenigen, die stehen blieben, um sich an der zarten Gestalt der Frühlingsbotin zu erfreuen, hielten ihr Wehklagen für das Säuseln des Windes, ihre Tränen für Tautropfen.
So vegetierte das Veilchen vor sich hin, ohne in seinem jämmerlichen Dasein einen Sinn zu finden. Kein einziger Mensch hielt es für nötig, dem Fristen des Veilchens durch die Unachtsamkeit seiner schweren Füße ein Ende zu bereiten.
An jenem Tag, an dem die Sonne unbarmherziger als sonst vom Himmel brannte und das zarte Haupt des Veilchens zu versengen drohte, kam ein junger Mann des Weges. In seiner Rechten trug er einen schweren Aktenkoffer, mit der Linken nestelte er an dem Kragen seines Hemdes herum.
Wider Erwarten unseres kleinen Blümchens schritt der Mann nicht unachtsam an ihm vorüber, sondern hielt einen Moment inne und stellte den Koffer neben sich zu Boden. Er bückte sich und seine Fingerkuppen hoben das gesenkte Köpfchen des Veilchens leicht an.
Als er so stand und die einsame Blume betrachtete, erinnerte er sich plötzlich seiner Kindheit. Oft war er sich wie ein übersehenes Veilchen am Wegrand vorgekommen, oft wollte er zeigen, wie schön eine solch kleine Pflanze erblühen konnte. Doch wer nahm schon ein winziges Blümchen in einer großen Stadt wahr?
Nach einigen Minuten trauriger Nostalgie blickte der Mann auf seine Uhr, um sich wieder seiner Verpflichtungen zu entsinnen. Bevor er aber dem Veilchen den Rücken kehrte, erbarmte er sich seiner, öffnete den Verschluss einer Wasserflasche und besprenkelte die Erde mit Flüssigkeit. Dankbar für die Erfrischung, aber zugleich betrübt wegen des Verschwindens des Mannes nahm das Veilchen das Wasser in sich auf.
Die Sonne schickte sich bereits an hinter dem Horizont zu verschwinden, als der junge Mann zurückkehrte.
Er hob das Veilchen mit bloßen Händen aus der Erde und achtete sorgsam darauf, keine seiner winzigen Wurzeln zu verletzen. So ganz gelang ihm das aber nicht. Vorsichtig schloss der Mann seine Hände um das Pflänzchen und trug es heim. Es wurde in einen Topf mit nahrhafter Erde gesetzt und vor dem Regen geschützt auf dem Balkon platziert. Die Nacht war zwar an jenem Platz ebenso kalt, der Wind aber weniger rau.
Jeden Morgen goss der Mann das kleine Veilchen und gerne ließ es das über sich ergehen. Welch Genuss war es, Wasser nicht als zuweilen überflüssiges, dann aber wieder heiß ersehntes Geschenk der Natur zu erleben, sondern sich rein seiner lebenswichtigen Notwendigkeit zu erfreuen!
Während des Tages schlummerte das Blümchen und des Abends, wenn der Mann zurückkehrte und sich auf dem Balkon seiner täglichen Lektüre widmete, beugte sich das Veilchen interessiert über seine Schultern. Zwar war es des Lesens natürlich nicht mächtig, doch es mochte die unterschiedlichen Buchstaben sehr. Mit Sorgfalt betrachtete es die großen und die kleinen Formen, die Länge der Wörter und ihre Zusammensetzung.
Das Veilchen und der Geschäftsmann lebten schon eine Weile in friedlicher Zweisamkeit, als jener eines Abends mit einem großen Topf Erde und mehreren Dutzend schöner Veilchen darin zurückkehrte.
Zunächst freute sich das Blümchen über die Verwandten, die ihm gewiss die langen, einsamen Tagesstunden verkürzen würden, doch zu des Veilchens Enttäuschung machten die Ankömmlinge keine Anstalt sich mit ihm zu unterhalten.
Nach Tagen des Hoffens kam es zum Schluss, die vielen Veilchen könnten vielleicht gar nicht sprechen. Oder weigerten sie sich nur in seiner Nähe? Still und schön standen sie mit erhabenen Häuptern in der Sonne, welche das Violett ihrer Blüten mit goldenem Licht tränkte. Trotz ihrer Pracht wirkten die Veilchen krank, leblos – ja fast tot. Sie wiegten sich im selben Wind, atmeten dieselbe Luft, nahmen dasselbe Licht auf und waren doch so anders als unser kleines Veilchen.
Manchmal, wenn jemand bei dem Mann zu Besuch war, wurden die Veilchen mit neugierigen Blicken betrachtet. Die gekauften Blumen wurden jedesmal als schön befunden, wohingegen man das kleine Veilchen kümmerlich und hässlich nannte.
Da wurde unser Veilchen traurig. Erkannten diese Menschen denn nicht, dass hinter dem äußeren Liebreiz seiner Verwandten eine tote oder gar keine Seele steckte? Nein, niemand nahm das wahr.
Eines Tages, welchen der Mann am Balkon verbrachte, fiel ihm auf, dass sein Blümlein seltsam betrübt schien und den Kopf hängen ließ. Er dachte, dass es neben den schönen Veilchen ganz jämmerlich aussehe, erschrak aber im selben Moment zu tiefst. Hatte er sich selbst nicht damals, als er das Veilchen aufnahm, mit ihm verglichen? War nicht auch er in seiner Kindheit immer neben den prächtigen Gestalten seiner Mitmenschen verblasst? Wollte er dasselbe seinem unvollkommenen und gerade deswegen liebreizenden Veilchen antun?
Kurzerhand nahm er den großen Topf, trug ihn hinaus und kippte den Inhalt auf einen Komposthaufen. Als der Mann mit dreckigen Händen und einem leeren Blumentopf zurückkehrte, fürchtete sich das Veilchen sehr, doch sein Besitzer legte nur zufrieden die Füße hoch und schlug sein Buch auf.
Während der Frühling in den Sommer überging und die vielen Veilchen im Sterben ihre Schönheit und somit das Einzige, was sie ausmachte, verloren, lebte unser kleines Veilchen glücklich auf dem Balkon des Mannes.
Als jedoch das Ende des Veilchenlebens nahte, wurde auch unser Blümchen immer kränklicher. Der Mann kümmerte sich rührend um seine Pflanze und als diese schon ihr Köpfchen auf die Erde legte, gedachten beide noch ein letztes Mal jener schönen Stunden der Zweisamkeit. Dann, unter leisem Seufzen, das der Mann für das Säuseln des Windes hielt, starb unser unscheinbares, jedoch über alles geliebtes Veilchen.

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