Montag, 16. Januar 2012

Das Veilchen

Einst stand am Wegrand ein kleines Veilchen. Es stand da, in sich gebückt und ganz kümmerlich. Getrieben vom Verlangen nach Sonne hatte es die Erde durchstoßen, ohne zu wissen, welch Grauen es an der Oberfläche erwartet. Die schweren Regentropfen, die es zu erschlagen drohten, der bestialische Gestank der vorüberfahrenden Blechkisten, der Lärm des Lebens, der täglich auf der Straße pulsierte. Was die dort wohnenden Menschen keineswegs zu stören schien, raubte dem Veilchen beinahe den Verstand. Es hätte am liebsten seine Beine aus der kalten Erde gezogen, wäre weggegangen und hätte sich an einem anderen Ort niedergelassen. Doch es lag nun mal im Sinn der Natur, dass Veilchen weder Beine hatten, noch gehen konnten.
Dem Veilchen blieb also nichts anderes übrig, als sich Tag für Tag den Kummer von der Seele zu weinen. Doch niemand der Vorbeieilenden hörte das Schluchzen des Blümchens. Die wenigen, die stehen blieben, um sich an der zarten Gestalt der Frühlingsbotin zu erfreuen, hielten ihr Wehklagen für das Säuseln des Windes, ihre Tränen für Tautropfen.
So vegetierte das Veilchen vor sich hin, ohne in seinem jämmerlichen Dasein einen Sinn zu finden. Nicht einmal ein Mensch hielt es für nötig dem Fristen des Veilchens durch die Unachtsamkeit seiner schweren Füße ein Ende zu bereiten.
An jenem Tag, an dem die Sonne unbarmherziger als sonst vom Himmel brannte und das zarte Haupt des Veilchens zu versengen drohte, kam ein junger Mann des Weges entlang. In seiner Rechten trug er einen schweren Aktenkoffer, mit der Linken nestelte er an dem Kragen seines Hemdes herum.
Wider Erwarten unseres kleinen Blümchens schritt der Mann nicht unachtsam an ihm vorüber, sondern hielt einen Moment inne und stellte den Koffer neben sich zu Boden. Er bückte sich und seine Fingerkuppen hoben das gesenkte Köpfchen des Veilchens leicht an. Plötzlich erinnerte er sich wieder seiner Kindheit – damals als man noch Zeit für solche Kleinigkeiten hatte.
Es war schon ein recht seltsamer Anblick einen jungen Geschäftsmann inmitten der vorbeihastenden Menschen sich einer kleinen Blume am Wegrand widmend zu sehen. Doch auch dieser Mann blickte nach einigen Minuten des In-Nostalgie-Schwebens auf seine Uhr, um sich wieder seiner Verpflichtungen zu entsinnen. Bevor er aber dem Veilchen den Rücken kehrte, öffnete er den Verschluss einer Wasserflasche und besprenkelte die Erde mit Flüssigkeit. Dankbar für die Erfrischung und gleichsam betrübt über das Verschwinden des Mannes nahm das Veilchen das Wasser in sich auf.
Die Sonne hatte wohl schließlich Erbarmen mit der kleinen Pflanze und schickte sich bereits an hinter dem Horizont zu verschwinden, als der junge Mann zurückkehrte.
Er hob das Veilchen mit bloßen Händen aus der Erde und achtete penibel darauf, keine seiner winzigen Wurzeln zu verletzen. So ganz gelang ihm das aber nicht. Vorsichtig schloss der Mann seine Hände um das Pflänzchen und trug es heim. Es wurde in einen Topf mit nahrhafter Erde gesetzt und vorm Regen geschützt auf dem Balkon platziert. Die Nacht war zwar an jenem Platz ebenso kalt, der Wind aber weniger rau.
Jeden Morgen goss der Mann das kleine Veilchen und es war wohl gesonnen das über sich ergehen zu lassen. Welch Genuss war es, Wasser nicht als mancher Tags überflüssiges und dann wieder heiß ersehntes Geschenk der Natur zu erleben, sonder sich rein seiner lebenswichtigen Notwendigkeit zu erfreuen!
Während des Tages schlummerte das Blümchen und des Abends, wenn der Mann zurückkehrte und sich auf dem Balkon seiner tagtäglichen Lektüre widmete, beugte sich das Veilchen intertressiert über seine Schultern. Zwar war es des Lesens natürlich nicht mächtig, doch es mochte die unterschiedlichen Buchstaben sehr. Mit Sorgfalt betrachtete es die Groß- und Kleinschreibung, die Länge der Wörter, die Zusammensetzung der Buchstaben. Bald erkannte es Bücher an deren Einbände und konnte sich entsinnen, ob ihre Seiten mit vermehrt langen, in ihrer Zusammenstellung verwirrend wirkenden Wörtern oder kurzen, regelmäßigen Buchstabengefügen gefüllt waren.
Das Veilchen und der Geschäftsmann lebten schon eine Weile in friedlicher Zweisamkeit, als jener eines Abends mit einem großen Topf Erde und mehreren Dutzend schöner Veilchen darin zurückkehrte.
Zunächst freute sich das Blümchen über die Verwandten, die ihm gewiss die langen, einsamen Tagesstunden verkürzen werden, doch zu des Veilchens Enttäuschung machten die Blumen keine Anstalt sich mit ihm zu unterhalten.
Nach Tagen des Hoffens kam es zum Schluss, die vielen Veilchen können ja gar nicht sprechen oder verweigerten sich dessen zumindest in seiner Nähe. Sie standen nur still und schön mit erhabenen Häuptern in der Sonne, welche das Violett ihrer Blüten mit goldenem Licht tränkte. Trotz ihrer Pracht wirkten die Veilchen krank, leblos – ja fast tot. Sie wiegten sich im selben Wind, atmeten dieselbe Luft, nahmen dasselbe Licht auf und waren doch so anders wie unser kleines Veilchen.
Manchmal, wenn jemand bei dem Mann zu besuch war, wurden die Veilchen kritischen Blickes betrachtet. Der große Stock wurde jedesmal als schön befunden, wohingegen man das kleine Veilchen kümmerlich und hässlich nannte.
Da wurde unser Veilchen traurig. Erkannten diese Menschen denn nicht, dass hinter dem äußeren Liebreiz seiner Verwandten eine tote – gar keine – Seele steckte?
Der Mann aber hatte das Veilchen gerade wegen seiner Unvollkommenheit liebgewonnen und pflegte es auch weiterhin behutsam. Eines Tages jedoch erhielt er den Ratschlag die Pflanze zu düngen, damit sie auch so schön wie ihre die anderen Veilchen werde. Zunächst verwarf der Mann den Gedanken, doch dann, als ihm begreiflich wurde um wie viel schöner die Gekauften doch waren, begann er die Erde seines lieben Blümchens mit Düngemittel zu benetzten.
Die Wurzeln des Veilchens nahmen die Stoffe freudig auf – sie fühlten sich gleich viel kräftiger. Auch das Köpfchen richtete sich auf, die Blüten strotzen in dunklem Violett und die Blätter sogen sich saftig voll.
Der Mann, getrieben von seinem sichtbaren Erfolg, flößte dem Pflänzchen immer mehr Gift ein, nach kurzer Zeit jedoch verlor es wieder an seiner neugewonnenen Pracht und begann welk zu werden. In seiner Verzweiflung erhöhte der junge Mann die Dosis des Düngemittels und hoffte innig das Veilchen möge doch gesund werden, wenigstens seine unvollkommene Schönheit möge es wieder erreichen.
Eines kühlen Tages, welchen der Mann nicht zu Hause verbrachte, legte das Veilchen sein Köpfchen auf die vergiftete Erde nieder. Es hörte noch das Plätschern des Regens gegen das Dach, kostete noch die frische Luft und sah die anderen Veilchen noch überlegen und tot dastehen. Dann unter leisem Seufzen, das man für das Säuseln des Windes gehalten hätte, starb unser kleines, armes Veilchen.