Montag, 20. Februar 2012

Ohne Worte


Sein Gesicht war der Wand zugewandt, aus den Augenwinkeln aber musterte er das versteinerte Gesicht der Frau. Dem Mann hätte der Streit leid getan, würde sie nicht so wenig betroffen dreinschauen. So stand sie mit gleichgültiger Miene und ohne ein Wort zu sagen auf, nahm Schlüssel und Jacke und verließ die Wohnung.
Ihr Verhalten fachte sein Gemüt erneut an. Sollte sie sich doch entschuldigen! Er würde es nicht tun.
Vor der Wohnungstür begannen die Tränen über das Gesicht der Frau zu laufen. Wie konnte er nur nicht merken, wie sehr sie seine Worte verletzt hatten? Sollte er sich doch entschuldigen! Sie würde es nicht tun.
Der Abend kam, die Frau kehrte zurück. In der Wohnung herrschte eiserne Stille, man sprach kein Wort. Drei Tage lebten sie so nebeneinander, jeder darauf warten, dass der andere sich entschuldige.
Dann, als beide den Streit längst bereuten, vergaß die Frau ihren Stolz, ging zum Mann und legte ihre Hand auf die seine. Er nahm die Frau in den Arm und niemand gebrauchte ein Wort, um sich auszudrücken.

Suizid


Die Sonne schlägt schon rote Wurzeln in die Schwärze der Nacht und das Licht quillt durstig hinter dem Horizont hervor. Es legt sich auf die Bäume und lässt seine Farbe an den Blättern zurück. Das Dämmerlicht weicht dem sanften, einschläfernden Gold des Morgens, welches schräge Bahnen durch die Luft zieht. Rasch läuft der Wind über jene rötlich goldene Landschaft, um das gefärbte Grün an Ästen und Boden zum Tanzen zu bringen. Die Grashalme lauschen der leisen, zaghaften Musik und lassen sich von ihr führen. Der blutige Tau riecht nach Tatendrang. Jener Geruch verleitet die Amseln zum Singen. Die Häuser des nahen Dorfes schlummern in ihrer Naivität, erwarten einen weiteren gewöhnlichen Tag, beginnend in rötlicher Harmonie.
Diese wird aber je durch ein nacktes Paar Füße gestört. Sie laufen einen Trampelpfad entlang und schrecken nicht vor dessen Ende zurück, sondern bahnen sich einen Weg über grünbewucherten Boden. An so manchem Stein und mancher Wurzel stoßen sie sich blutig, aber es gefällt ihnen das Leben zu spüren. Die Füße tragen ein Mädchen mit langem schwarzem Haar und immer schneller tragen sie es in den Wald hinein. Gräser dirigierender Wind spielt mit des Mädchens Haar, die Röte der Sonne in seinen dunklen Augen. Es ist alles was darin spielt.
Das Mädchen flüchtet sich in die Einsamkeit, irrt umher, durchbricht schließlich das Dickicht und gelangt auf eine Lichtung. Sie zögert, doch ihre Füße tapsen über das Gras und ziehen sie schließlich zu Boden. Fast widerspenstig bettet sich der schmächtige Körper auf den unebenen Untergrund.
Ihr weißes, kurzes Kleid schützt die blasse Haut weder vor morgendlicher Frische noch vor Taunässe.
Sie schließt die Augen und wiegt sich in köstliche Träume. So lange schon hat sie die Fähigkeit dazu verloren geglaubt, doch nun kehrt sie zurück und diesmal, dieses letzte Mal, ist sie überwältigender als jemals zuvor.
Verborgene Wünsche entführen das Mädchen an exotische Orte, lassen es in Gedanken unvorstellbare Dinge tun und schöne Gefühle kosten. Die Bilder kommen und verschwimmen wieder, doch eines hindert sie am Verschwinden. Das Mädchen hält es ganz fest und trägt es zu seinem Herzen. Das Lachen junger Menschen hüllt sie in die schönste aller Fantasien. Das Mädchen fühlt sich als Teil dieser Gruppe, ja mehr noch – als ihr Mittelpunkt. Sie liebt und sie wird geliebt. Minutenlang wird sie von jener Utopie liebkost und in Hoffnung gewiegt.
Ganz plötzlich jedoch spült eine Woge der Realität über sie hinweg.
Zwei Gesichter tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Beide sind sie blass und dunkelhaarig, das eine aber hat markante Züge und strömt unglaubliche Strenge und Härte aus, das andere unruhige, gehetzte Augen, die demütig zu Boden blickten. Das Mädchen riecht den Duft seines Zuhause, den es unweigerlich mit den beiden Gesichtern in Verbindung bringt. Ob sie ihre Eltern hasst, weiß sie nicht, aber es ist keine Liebe, nur eben zwei blasse Gesichter in ihrem Kopf. Die Eltern haben ihr nichts Böses getan, wie denn auch, wenn sie nie da gewesen sind?
Sie riecht Stress. Es ist ein beißender Geruch, den die Schüler in dem stillen Raum ausströmen. Ihr Blick schweift über Köpfe, die tief über Hefte gebeugt sind. Der Lehrer fragt sie gehässig, ob Madame sich für jene Lehranstalt zu fein wäre. Sie schüttelt den Kopf, doch sie lässt ihr Heft weiter unangerührt. Sie hat bereits resigniert. Die Eliteschule schmeißt sie raus. Gut so. Blöde, schimpfende Gesichter.
Sie vernimmt die spottenden Stimmen in den überfüllten Schulgängen, trifft auf Unverständnis. Undankbare Göre! Bald geht sie auf eine neue Schule. Gut so, anfangs jedenfalls. Die Neugierde der Mitschüler wandelt sich in Hass. Sie kann sich nicht entsinnen, je einen Fehler begangen zu haben. Aber jede Gesellschaft braucht ihre Sündenböcke, nicht?
Ein spärlich beleuchtetes Zimmer. Kalte Tränen fühlt sie über ihre heißen Wangen laufen. Immer und immer wieder liest sie die Nachrichten auf ihrem Handy. Wüste Beschimpfungen und Drohungen sind dort in Buchstaben gefasst. Sie hat keinen Fehler begangen, aber Gott: Er lässt sie existieren.
Die Gesichter verschmelzen mit Lehrern und Mitschülern, bäumen sich über ihr auf, zerren an ihren Gliedmaßen und ziehen sie in einen Strudel hinab.
Ihr Kopf wälzt sich unruhig im Gras von einer Seite auf die andere; ihr ist nicht bewusst, dass sie strampelt und um sich schlägt. Der Traum hält sie fest.
Dumpf prallt ihr Körper auf hartem Untergrund auf. Schwaches Licht öffnet ihre Augen. Mit schmerzenden Händen stützt sich das Mädchen vom Boden ab und sieht sich in die Augen. Ihr Kopf wirbelt herum und doch erblickt sie wieder ihr eigenes Antlitz. Egal, wie sie sich dreht, egal, wo ihr Blick hinfällt, immer sieht sie jenes hässliche, blasse Gesicht mit den leeren, schreckgeweiteten Pupillen. Wie in Trance erhebt sie sich und geht auf die Spiegel zu; ihre Schritte hallen, aber nach wenigen Metern stößt sie gegen eine Mauer. Die Spiegel um sie herum schmelzen; Mauern schieben sich auf sie zu. Der Versuch zu schreien misslingt, weil ein metallener Geschmack ihre Sinne betäubt; Blut rinnt den Rachen hinab und verätzt die Gedärme.
Blind tastet sie die nahenden Mauern ab, doch sie verliert den Halt unter den Füßen. Ihre Augen sind des Sehens nicht mehr mächtig, aber sie hört das hämische Gelächter, welches auf ihre Demütigung folgt, spürt die Enttäuschung der zwei Gesichter und die Einsamkeit, die sie in ihrem Sturz verfolgt.
Sie schlägt die Augen auf und blickt in den Himmel, der seine Röte bereits verloren hat. Das Herz hämmerte fest und schmerzhaft gegen die Rippen. Sie hört das Blut in den Adern pulsieren und die Luft aus ihrer Lunge entweichen.
Ihre taube Hand greift in die angenähte Tasche des Kleides und zieht etwas heraus. Während ihre fiebrigen Augen den Himmel fixieren, klappt das Messer auf. Der ganze Körper wird von einem leichten Zittern erfasst, doch ihre Rechte führt die Klinge ruhig an das Gelenk der anderen Hand.
Sie fühlt weder die Hand, die ausführt, noch die, die unter der scharfen Klinge leidet. Keinen noch so kleinen Moment wenden sich ihre Augen von dem Blau des Himmelgewölbes.
Das Messer fängt einen Sonnenstrahl in sich auf, als es ins Gras fällt. Über das Gesicht legt sich – wenn überhaupt möglich – eine noch größere Leere. Nun findet man keine Röte am Himmel mehr, denn der Stoff des einst weißen Kleides hat sich an ihr vollgesogen.

Überarbeitung von "Das Veilchen"


Einst stand an einem Wegrand ein kleines Veilchen. Es stand da, in sich gebückt und ganz kümmerlich. Getrieben vom Verlangen nach Sonne hatte es die Erde durchstoßen, ohne zu wissen, welch Grauen es an der Oberfläche erwartete. Die schweren Regentropfen, die es zu erschlagen drohten, der bestialische Gestank der vorüberfahrenden Blechkisten, der Lärm des Lebens, der täglich auf der Straße pulsierte. Was die dort wohnenden Menschen keineswegs zu stören schien, raubte dem Veilchen beinahe den Verstand. Es hätte am liebsten seine Beine aus der kalten Erde gezogen, wäre weggegangen und hätte sich an einem anderen Ort niedergelassen. Doch es lag nun einmal im Sinn der Natur, dass Veilchen weder Beine haben noch gehen können.
Dem Veilchen blieb also nichts anderes übrig, als sich Tag für Tag den Kummer von der Seele zu weinen. Doch niemand der Vorbeieilenden hörte das Schluchzen des Blümchens. Die wenigen, die stehen blieben, um sich an der zarten Gestalt der Frühlingsbotin zu erfreuen, hielten ihr Wehklagen für das Säuseln des Windes, ihre Tränen für Tautropfen.
So vegetierte das Veilchen vor sich hin, ohne in seinem jämmerlichen Dasein einen Sinn zu finden. Kein einziger Mensch hielt es für nötig, dem Fristen des Veilchens durch die Unachtsamkeit seiner schweren Füße ein Ende zu bereiten.
An jenem Tag, an dem die Sonne unbarmherziger als sonst vom Himmel brannte und das zarte Haupt des Veilchens zu versengen drohte, kam ein junger Mann des Weges. In seiner Rechten trug er einen schweren Aktenkoffer, mit der Linken nestelte er an dem Kragen seines Hemdes herum.
Wider Erwarten unseres kleinen Blümchens schritt der Mann nicht unachtsam an ihm vorüber, sondern hielt einen Moment inne und stellte den Koffer neben sich zu Boden. Er bückte sich und seine Fingerkuppen hoben das gesenkte Köpfchen des Veilchens leicht an.
Als er so stand und die einsame Blume betrachtete, erinnerte er sich plötzlich seiner Kindheit. Oft war er sich wie ein übersehenes Veilchen am Wegrand vorgekommen, oft wollte er zeigen, wie schön eine solch kleine Pflanze erblühen konnte. Doch wer nahm schon ein winziges Blümchen in einer großen Stadt wahr?
Nach einigen Minuten trauriger Nostalgie blickte der Mann auf seine Uhr, um sich wieder seiner Verpflichtungen zu entsinnen. Bevor er aber dem Veilchen den Rücken kehrte, erbarmte er sich seiner, öffnete den Verschluss einer Wasserflasche und besprenkelte die Erde mit Flüssigkeit. Dankbar für die Erfrischung, aber zugleich betrübt wegen des Verschwindens des Mannes nahm das Veilchen das Wasser in sich auf.
Die Sonne schickte sich bereits an hinter dem Horizont zu verschwinden, als der junge Mann zurückkehrte.
Er hob das Veilchen mit bloßen Händen aus der Erde und achtete sorgsam darauf, keine seiner winzigen Wurzeln zu verletzen. So ganz gelang ihm das aber nicht. Vorsichtig schloss der Mann seine Hände um das Pflänzchen und trug es heim. Es wurde in einen Topf mit nahrhafter Erde gesetzt und vor dem Regen geschützt auf dem Balkon platziert. Die Nacht war zwar an jenem Platz ebenso kalt, der Wind aber weniger rau.
Jeden Morgen goss der Mann das kleine Veilchen und gerne ließ es das über sich ergehen. Welch Genuss war es, Wasser nicht als zuweilen überflüssiges, dann aber wieder heiß ersehntes Geschenk der Natur zu erleben, sondern sich rein seiner lebenswichtigen Notwendigkeit zu erfreuen!
Während des Tages schlummerte das Blümchen und des Abends, wenn der Mann zurückkehrte und sich auf dem Balkon seiner täglichen Lektüre widmete, beugte sich das Veilchen interessiert über seine Schultern. Zwar war es des Lesens natürlich nicht mächtig, doch es mochte die unterschiedlichen Buchstaben sehr. Mit Sorgfalt betrachtete es die großen und die kleinen Formen, die Länge der Wörter und ihre Zusammensetzung.
Das Veilchen und der Geschäftsmann lebten schon eine Weile in friedlicher Zweisamkeit, als jener eines Abends mit einem großen Topf Erde und mehreren Dutzend schöner Veilchen darin zurückkehrte.
Zunächst freute sich das Blümchen über die Verwandten, die ihm gewiss die langen, einsamen Tagesstunden verkürzen würden, doch zu des Veilchens Enttäuschung machten die Ankömmlinge keine Anstalt sich mit ihm zu unterhalten.
Nach Tagen des Hoffens kam es zum Schluss, die vielen Veilchen könnten vielleicht gar nicht sprechen. Oder weigerten sie sich nur in seiner Nähe? Still und schön standen sie mit erhabenen Häuptern in der Sonne, welche das Violett ihrer Blüten mit goldenem Licht tränkte. Trotz ihrer Pracht wirkten die Veilchen krank, leblos – ja fast tot. Sie wiegten sich im selben Wind, atmeten dieselbe Luft, nahmen dasselbe Licht auf und waren doch so anders als unser kleines Veilchen.
Manchmal, wenn jemand bei dem Mann zu Besuch war, wurden die Veilchen mit neugierigen Blicken betrachtet. Die gekauften Blumen wurden jedesmal als schön befunden, wohingegen man das kleine Veilchen kümmerlich und hässlich nannte.
Da wurde unser Veilchen traurig. Erkannten diese Menschen denn nicht, dass hinter dem äußeren Liebreiz seiner Verwandten eine tote oder gar keine Seele steckte? Nein, niemand nahm das wahr.
Eines Tages, welchen der Mann am Balkon verbrachte, fiel ihm auf, dass sein Blümlein seltsam betrübt schien und den Kopf hängen ließ. Er dachte, dass es neben den schönen Veilchen ganz jämmerlich aussehe, erschrak aber im selben Moment zu tiefst. Hatte er sich selbst nicht damals, als er das Veilchen aufnahm, mit ihm verglichen? War nicht auch er in seiner Kindheit immer neben den prächtigen Gestalten seiner Mitmenschen verblasst? Wollte er dasselbe seinem unvollkommenen und gerade deswegen liebreizenden Veilchen antun?
Kurzerhand nahm er den großen Topf, trug ihn hinaus und kippte den Inhalt auf einen Komposthaufen. Als der Mann mit dreckigen Händen und einem leeren Blumentopf zurückkehrte, fürchtete sich das Veilchen sehr, doch sein Besitzer legte nur zufrieden die Füße hoch und schlug sein Buch auf.
Während der Frühling in den Sommer überging und die vielen Veilchen im Sterben ihre Schönheit und somit das Einzige, was sie ausmachte, verloren, lebte unser kleines Veilchen glücklich auf dem Balkon des Mannes.
Als jedoch das Ende des Veilchenlebens nahte, wurde auch unser Blümchen immer kränklicher. Der Mann kümmerte sich rührend um seine Pflanze und als diese schon ihr Köpfchen auf die Erde legte, gedachten beide noch ein letztes Mal jener schönen Stunden der Zweisamkeit. Dann, unter leisem Seufzen, das der Mann für das Säuseln des Windes hielt, starb unser unscheinbares, jedoch über alles geliebtes Veilchen.